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T 0609/21 05-02-2024
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Reifenprüfgerät, Reifenprüfanlage und Verfahren zur Reifenprüfung
Ausreichende Substantiierung der Beschwerdebegründung (ja)
Entscheidung im schriftlichen Verfahren (ja)
Neuheit und erfinderische Tätigkeit (ja)
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) richtete ihre Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2851670 zurückzuweisen.
Der Einspruch gegen das Streitpatent in vollem Umfang war auf die Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikeln 52 (1), 54 (1) und 56 EPÜ) gestützt.
II. Folgende Dokumente wurden u.a. im erstinstanzlichen Verfahren herangezogen und von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren wieder aufgegriffen:
D1: WO 2006/093753 A2
D2: WO 2006/093752 A1
D3: DE 26 41 516 A1
D5: EP 1 043 578 A2
D10: DE 26 15 081 A.
III. In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass weder der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit noch der Einspruchsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung entgegenstünden.
IV. Mit der Beschwerdeschrift beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen. Hilfsweise beantragte sie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
V. Mit der Beschwerdeerwiderung vom 14. Dezember 2021 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) Ansprüche gemäß Hilfsanträgen XIV bis XVII ein.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag) und hilfsweise das Patent in geänderter Fassung gemäß einem der Hilfsanträge I bis XIII, eingereicht mit Schreiben vom 30. September 2019, oder einem der Hilfsanträge XIV bis XVII, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 14. Dezember 2021, aufrechtzuerhalten. Für den Fall, dass dem Hauptantrag nicht bereits im schriftlichen Verfahren entsprochen werden könnte, wurde hilfsweise eine mündliche Verhandlung beantragt.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung zu der Sache mit.
VII. Auf die vorgenannte Mitteilung der Kammer hin nahm die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 22. Januar 2024 den Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. Die Beschwerdeführerin teilte mit, dass sie sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärte.
VIII. Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung aufgehoben.
IX. Die Ansprüche 1, 7 und 9 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lauten wie folgt, wobei die von der Einspruchsabteilung verwendete Merkmalsgliederung "M1" bis "M7" der Merkmale des Anspruchs 1 durch die Kammer in eckigen Klammern hinzugefügt wurde:
"1. [M1] Reifenprüfgerät zur optischen Prüfung eines Reifens (4), umfassend
[M2] ein Gehäuse mit einer Auflagefläche (3) für den zu prüfenden Reifen (4),
[M3] mehrere Messköpfe (7, 8, 9, 10), die jeweils eine Messoptik (19) aufweisen, [M4] zum Prüfen der inneren Lauffläche (11) des Reifens (4) und
[M5] eine Positioniereinrichtung (21, 22, 23, 24) zum Positionieren der Messköpfe (7-10) in einer Ruheposition und in einer Messposition, [M6] wobei die Messköpfe (7-10) vertikal verfahrbar sind,
dadurch gekennzeichnet,
dass [M7] die Messköpfe (7-10) und die Auflagefläche (3) drehfest angeordnet sind."
"7. Reifenprüfanlage, umfassend ein Reifenprüfgerät (28) nach einem der Ansprüche 1 bis 5 und einen Reifenwender (31), vorzugsweise einen Reifenwender (31) zum lagerichtigen Wenden des Reifens (4)."
"9. Verfahren zur interferometrischen Prüfung eines Reifens (4) mit einem Reifenprüfgerät nach einem der Ansprüche 1 bis 5,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Messköpfe (7-10; 12-17) und der Reifen (4) keine Drehbewegung gegeneinander ausführen."
Das Patent in der erteilten Fassung beinhaltet auch die abhängigen Ansprüche 2 bis 6, 8 und 10 bis 16.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Die Kammer weist in dieser Hinsicht darauf hin, dass die Beschwerdebegründung - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen - im Wesentlichen eine Wiederholung der Ausführungen der Beschwerdeführerin in der Einspruchsschrift und in dem im erstinstanzlichen Verfahren eingereichten Schreiben vom 4. Dezember 2020 beinhaltet. Die Beschwerdebegründung beinhaltet aber auch Ausführungen (siehe insbesondere Seite 34, zweiter und dritter Absatz von unten, und der die Seiten 35 und 36 überbrückende Absatz), die über eine Wiederholung von im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragenen Argumenten hinausgehen und aus Sicht der Kammer eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Gründen in der angefochtenen Entscheidung darstellen. Bereits aus diesen Gründen ist die Beschwerdebegründung ausreichend substantiiert (Artikel 108 i.V.m. Regel 99 (2) EPÜ).
2. Verfahrensaspekte
Die Beschwerdeführerin hat ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung (Artikel 116 (1) EPÜ) zurückgenommen und sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt (vgl. Nr. VII oben).
Der von der Beschwerdegegnerin hilfsweise gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung stand unter der Bedingung, dass ihrem Hauptantrag nicht bereits im schriftlichen Verfahren entsprochen werden könnte (vgl. Nr. V oben). Da dem Hauptantrag der Beschwerdegegnerin im schriftlichen Verfahren stattgegeben wird, kommt der von ihr hilfsweise gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung nicht zum Tragen.
Außerdem ist die Beschwerdesache aus Sicht der Kammer auf Grundlage der zu überprüfenden Entscheidung und des vorliegenden schriftlichen Vorbringens der Beteiligten unter Wahrung deren Verfahrensrechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif. Insbesondere sieht die Kammer - nachdem die in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK dargelegte vorläufige Auffassung von der Beschwerdeführerin weder weiter kommentiert noch bestritten wurde und nachdem die Kammer erneut alle relevanten Aspekte berücksichtigt hat - keinen Grund, von der in der erwähnten Mitteilung dargelegten vorläufigen Auffassung abzuweichen und bestätigt diese, wie im Folgenden näher dargestellt. Somit konnte im vorliegenden Fall die mündliche Verhandlung aufgehoben werden und die Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß Artikel 12 (8) VOBK ergehen.
3. Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) - Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit - Druckschriften D1, D2 und D5
3.1 Anspruch 1 - Druckschrift D1
3.1.1 In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass sich das Reifenprüfgerät gemäß dem erteilten Anspruch 1 von dem Reifenprüfgerät der Druckschrift D1 durch das Merkmal M7 (vgl. Nr. IX oben) unterscheide.
3.1.2 Die Beschwerdeführerin ist dieser Auffassung der Einspruchsabteilung entgegengetreten und hat im Wesentlichen geltend gemacht, dass Anspruch 1 die strukturelle Ausgestaltung des beanspruchten Reifenprüfgeräts, keine relative Drehbewegung zwischen den Messköpfen und der Auflagefläche zu erlauben, - entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung - offenlasse.
Die Kammer stimmt einerseits mit der Beschwerdeführerin darin überein, dass Anspruch 1 - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - auf ein Reifenprüfgerät gerichtet ist und dass es somit für die Frage der Neuheit nicht auf ein Reifenprüfverfahren bzw. auf die Verwendung des Reifenprüfgeräts, sondern allein auf die Ausgestaltung bzw. auf die strukturellen und funktionellen Merkmale des beanspruchten Reifenprüfgeräts ankommt. Andererseits verlangt Merkmal M7 des Anspruchs 1, dass "die Messköpfe (7-10) und die Auflagefläche (3) drehfest angeordnet sind". Der Fachmann wird das Merkmal M7 aus Sicht der Kammer zumindest in dem Sinne auslegen, dass das beanspruchte Reifenprüfgerät strukturell derart ausgestaltet ist, dass keine relative Drehbewegung - sei es absichtlich oder nur versehentlich - zwischen den Messköpfen und der Auflagefläche möglich ist, da bei einer solchen relativen Drehbewegung zumindest die Messköpfe oder die Auflagefläche das Merkmal M7 nicht erfüllen würde(n).
Außerdem ist das Merkmal M7 in der Druckschrift D1 weder unmittelbar noch eindeutig offenbart. Im Gegenteil, es wird in der Druckschrift D1 ausdrücklich offenbart, dass das Reifenprüfgerät der Fig. 2 eine erfindungsgemäße Vorrichtung darstellt (Absätze [0021] und [0078], erster Satz) und dass die Messköpfe (Kameras 40, vgl. Absatz [0078], Zeilen 15 bis 18) - zumindest gegenüber der Auflagefläche - drehbar angeordnet sind (vgl. Fig. 2 und Absatz [0078], Zeilen 7 bis 9, i.V.m. Fig. 6 und der entsprechenden Beschreibung, insbesondere Absätze [0088] und [0092]).
3.1.3 In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin weitere Argumente vorgebracht, die eine Wiederholung von im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragenen Argumenten (vgl. Schreiben vom 4. Dezember 2020) darstellen und die von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung als nicht überzeugend angesehen wurden. Diese Argumente stellen daher keine Auseinandersetzung mit den Gründen in der angefochtenen Entscheidung dar. Außerdem sieht die Kammer keine Veranlassung, die Auffassung der Einspruchsabteilung in dieser Hinsicht in Frage zu stellen. Insbesondere weist die Kammer darauf hin, dass die Tatsache, dass das Reifenprüfgerät der Druckschrift D1 eine 360°-Abbildung der inneren Lauffläche des Reifens erlaubt (Absatz [0104]), per se - wie von der Beschwerdegegnerin hervorgehoben - nicht ausschließt, dass eine solche Abbildung durch die in der Druckschrift D1 offenbarte drehbare Anordnung erfasst wird. Jedenfalls kann aus der bloße Tatsache, dass in den Absätzen [0092], [0094], [0140] und [0176] der Druckschrift D1 ausschließlich eine vertikale Bewegung der Kameras gegenüber dem Reifen angesprochen wird, nicht unmittelbar und eindeutig abgeleitet werden, dass dabei keine Drehung der Kameras (vgl. Fig. 2 und die entsprechende Beschreibung, insbesondere Seite 17, Zeilen 7 bis 11) stattfindet. Und selbst wenn man annehmen würde, dass dabei keine Drehung der Kameras bzw. der Auflagefläche tatsächlich stattfindet oder dass der Fachmann keine Veranlassung hätte, die Kameras und die Auflagefläche relativ zueinander zu drehen, würde dies nicht bedeuten, dass das Reifenprüfgerät der Druckschrift D1 - entgegen der ausdrücklichen Offenbarung der Druckschrift - strukturell derart ausgestaltet ist, dass die Kameras und die Auflagefläche drehfest angeordnet sind.
3.1.4 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D1 neu ist (Artikel 54 (1) EPÜ).
3.2 Anspruch 1 - Druckschrift D2
Die Druckschrift D2 hat einen ähnlichen Offenbarungsgehalt wie die Druckschrift D1 (siehe D2, Fig. 2 und 6 i.V.m. der entsprechenden Beschreibung) und die Überlegungen unter Nr. 3.1.2 und 3.1.3 oben gelten sinngemäß auch in Bezug auf die Druckschrift D2.
Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D2 neu ist (Artikel 54 (1) EPÜ).
3.3 Anspruch 1 - Druckschrift D5
3.3.1 In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass sich das Reifenprüfgerät gemäß dem erteilten Anspruch 1 von dem Reifenprüfgerät der Druckschrift D5 durch das Merkmal M7 unterscheide.
3.3.2 Die Beschwerdeführerin ist der zugrunde liegenden Argumentation der Einspruchsabteilung entgegengetreten und hat vorgebracht, dass Anspruch 1 die strukturelle Ausgestaltung des beanspruchten Reifenprüfgeräts, keine relative Drehbewegung zwischen den Messköpfen und der Auflagefläche zu erlauben, offenlasse.
Dieses Argument betrifft die oben unter Nr. 3.1.2 bereits angesprochene Frage der Auslegung des Anspruchs 1 und diesem Argument kann zumindest insoweit nicht gefolgt werden, als der Fachmann das Merkmal M7 - wie oben unter Nr. 3.1.2, zweiter Absatz ausgeführt - zumindest in dem Sinne auslegen wird, dass das beanspruchte Reifenprüfgerät strukturell derart ausgestaltet ist, dass keine relative Drehbewegung zwischen den Messköpfen und der Auflagefläche möglich ist.
3.3.3 Die Beschwerdeführerin hat in Rahmen der Frage der erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination der Druckschrift D5 mit der Druckschrift D1 bzw. D2 vorgebracht (vgl. Nr. 4.5 unten, zweiter Absatz), dass eine drehfeste Anordnung von Messköpfen und Auflagefläche in den Schutzbereich von Anspruch 1 der Druckschrift D5 falle und daher aus Sicht des Fachmanns implizit aus der Druckschrift D5 hervorgehe. Sofern dieses Argument auch der Frage der Neuheit gegenüber der Druckschrift D5 zuzuordnen ist, weist die Kammer darauf hin, dass die bloße Tatsache, dass eine bestimmte konkrete Ausführungsform unter den Schutzbereich eines Anspruchs fällt, - wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht - keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung dieser konkreten Ausführungsform als solche impliziert.
3.3.4 Die Beschwerdeführerin hat weitere Ausführungen gemacht, die eine bloße Wiederholung der Ausführungen in der Einspruchsschrift und somit keine Auseinandersetzung mit den Gründen in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Neuheit gegenüber der Druckschrift D5 darstellen. Außerdem sieht die Kammer keinen Grund, in dieser Hinsicht von der Auffassung der Einspruchsabteilung abzuweichen. Daher erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu.
3.3.5 Die Beschwerdeführerin hat weitere Argumente vorgebracht, die die Frage der erfinderischen Tätigkeit und nicht die Frage der Neuheit des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D5 betreffen. Folglich werden diese Argumente unten unter Nr. 4.4.3 bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt.
3.3.6 Im Übrigen offenbart die Druckschrift D5 - wie von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung unter Verweis auf die Absätze [0006] und [0036] und auf den abhängigen Anspruch 2 festgestellt - ein Reifenprüfgerät mit einer drehbaren Anordnung von Messköpfen und Auflageflächen, sodass das Merkmal M7 der Druckschrift D5 nicht entnehmbar ist.
3.3.7 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D5 neu ist (Artikel 54 (1) EPÜ).
3.4 Ansprüche 7 und 9 und abhängige Ansprüche 2 bis 6, 8 und 10 bis 16
Der erteilte Anspruch 7 ist auf eine Reifenprüfanlage gerichtet, die das Reifenprüfgerät gemäß Anspruch 1 umfasst. Der erteilte Anspruch 9 definiert ein Verfahren zur interferometrischen Prüfung eines Reifens mit einem Reifenprüfgerät nach Anspruch 1, sodass das beanspruchte Verfahren die Verwendung des Reifenprüfgeräts gemäß Anspruch 1 umfasst. Daher ist die Kammer der Auffassung, dass sowohl der Gegenstand des erteilten Anspruchs 7 als auch das Verfahren gemäß dem erteilten Anspruch 9 neu gegenüber den Druckschriften D1, D2 und D5 sind (Artikel 54 (1) EPÜ) - und zwar unabhängig davon, ob die zusätzlichen Merkmale, die in Anspruch 7 bzw. in Anspruch 9 definiert sind, neu gegenüber den Druckschriften D1, D2 und D5 sind.
Entsprechendes gilt für die erteilten abhängigen Ansprüche 2 bis 6, 8 und 10 bis 16 (Artikel 54 (1) EPÜ).
3.5 Aus den Überlegungen und Schlussfolgerungen in Nr. 3.1 bis 3.4 oben folgt, dass der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikeln 52 (1) und 54 (1) EPÜ der Aufrechterhaltung des erteilten Patents nicht entgegensteht.
4. Hauptantrag - Einspruchsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit
4.1 In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sowohl gegenüber der Druckschrift D1 bzw. D2 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, als auch gegenüber der Druckschrift D5 in Kombination mit dem allgemeinem Fachwissen oder mit einer der Druckschriften D1, D2 und D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
4.2 Anspruch 1 - Druckschrift D1 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen
4.2.1 Das Unterscheidungsmerkmal M7 bewirkt, dass das Reifenprüfgerät vereinfacht wird (siehe Absatz [0008] der Patentschrift). Die objektive technische Aufgabe besteht daher darin, die Ausgestaltung des Reifenprüfgeräts zu vereinfachen.
4.2.2 Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, dass Merkmal M7 eine rein konstruktive Maßnahme sei, die sich dem Fachmann aufdränge, wenn er eine 360°-Abbildung des Reifeninneren vorsehe. Denn wozu sollte der Fachmann den zusätzlichen Aufwand betreiben, eine drehbare Anordnung vorzusehen, wenn mit dem Kamerasystem der Druckschrift D1 die Reifeninnenfläche komplett abgebildet werden könne, wie dies in Absatz [0104] in einer bevorzugten Ausführungsform beschrieben werde. Für den Fachmann bestehe nicht die geringste Veranlassung, eine Drehung des Kamerasystems gegenüber der Auflagefläche und damit gegenüber dem Reifen vorzusehen.
Die Argumente der Beschwerdeführerin basieren aber auf der Annahme, dass die in der Druckschrift D1 angesprochene 360°-Abbildung ohne eine Drehung der Kameras vorgenommen wird. Diese Annahme ist aber - wie oben unter Nr. 3.1.2, dritter Absatz, und Nr. 3.1.3 ausgeführt - durch die Druckschrift D1 nicht gestützt. Aber selbst unter der Annahme, dass dies der Fall wäre, würde der Fachmann aus Sicht der Kammer nicht in Betracht ziehen, das Reifenprüfgerät der Druckschrift D1 strukturell derart auszugestalten, dass die Kameras und die Auflagefläche drehfest angeordnet sind. Die Druckschrift D1 offenbart, wie oben unter Nr. 3.1.2 und 3.1.3 bereits ausgeführt, eine drehbare Anordnung der Messköpfe gegenüber der Auflagefläche, und bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gegenüber der Druckschrift D1 stellt sich - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - nicht die Frage, wozu der Fachmann die in der Druckschrift D1 offenbarte drehbare Anordnung der Messköpfe gegenüber der Auflagefläche vorsehen sollte, sondern die Frage, ob - und warum - der Fachmann aufgrund seines Fachwissens in Betracht gezogen hätte, im technischen Kontext der Druckschrift D1 auf diese drehbare Anordnung zu verzichten und anschließend die Ausgestaltung des Reifenprüfgeräts strukturell derart zu modifizieren, dass die Messköpfe und die Auflagefläche drehfest angeordnet sind. Diese Frage ist nach der Auffassung der Kammer zu verneinen. Wie von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung bereits ausgeführt, erhält der Fachmann aus der Druckschrift D1 keinen Hinweis darauf, dass eine drehfeste Anordnung zwischen den Messköpfen und den Auflageflächen verwendet werden könnte. Außerdem hat die Beschwerdeführerin kein das Fachwissen darstellende Dokument vorgebracht, das das Merkmal M7 zeigt.
4.2.3 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D1 und unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
4.3 Anspruch 1 - Druckschrift D2 als nächstliegender Stand der Technik
Die Druckschrift D2 hat - wie oben unter Nr. 3.2 bereits ausgeführt - einen ähnlichen Offenbarungsgehalt wie die Druckschrift D1 und die Überlegungen unter Nr. 4.2.1 und 4.2.2 oben gelten sinngemäß auch in Bezug auf die Druckschrift D2.
Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D2 und unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
4.4 Anspruch 1 - Druckschrift D5 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen
4.4.1 Die Einspruchsabteilung hat die Auffassung vertreten, dass die objektive technische Aufgabe gegenüber der Druckschrift D5 als nächstkommendem Stand der Technik darin zu sehen sei, die Prüfzeit zu verringern und die Ausgestaltung des Prüfgeräts zu vereinfachen.
4.4.2 Die Kammer weist darauf hin, dass das beanspruchte Reifenprüfgerät Ausführungsformen aufweist, bei denen das Messfeld der Messköpfe die innere Lauffläche des Reifens vollständig abbildet (vgl. Patentschrift, Fig. 6 i.V.m. Absatz [0056]), aber auch Ausführungsformen, bei denen das Messfeld der Messköpfe nur einen Teil der inneren Lauffläche des Reifens erfasst (siehe z.B. Patentschrift, Fig. 4 i.V.m. Absatz [0055]). Die letzteren Ausführungsformen erfordern in bestimmten Situationen - insbesondere bei einer Abbildung der gesamten inneren Lauffläche des Reifens (vgl. Druckschrift D5, Spalte 1, Zeilen 15 bis 20, und Spalte 7, Zeilen 3 bis 6) - bestimmte Maßnahmen - wie z.B. mehrere aufeinanderfolgende Prüfungen des Reifens jeweils nach einem geeigneten Wenden des Reifens, siehe z.B. Patentschrift, Fig. 10 bis 15 i.V.m. den Absätzen [0059] bis [0072] -, durch die sich im Vergleich zum Reifenprüfgerät gemäß der Druckschrift D5 ein verfahrensverzögernder Zeitaufwand ergibt. Aus diesen Gründen ist die von der Einspruchsabteilung formulierte objektive technische Teilaufgabe, die Prüfzeit zu verkürzen, aus Sicht der Kammer nicht von dem tatsächlich beanspruchten Gegenstand gestützt.
Daher besteht die objektive technische Aufgabe aus Sicht der Kammer - und wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht - darin, die Ausgestaltung des Prüfgeräts zu vereinfachen.
4.4.3 Die Einspruchsabteilung hat in ihrer Entscheidung die Auffassung vertreten, dass die Druckschrift D5 dem Fachmann keinen Anreiz biete, "aus dem Paradigma einer Relativdrehung von Messköpfen und Auflageflächen herauszudenken".
Die Beschwerdeführerin hat dieser Auffassung der Einspruchsabteilung widersprochen und geltend gemacht, dass die Relativdrehung von Messköpfen und Auflageflächen, wie sie sich beispielsweise aus den Druckschriften D3 und D10 ergebe, kein Paradigma darstelle.
Es ist in diesem Zusammenhang zuerst anzumerken, dass die Reifenprüfgeräte der Druckschriften D3 (Fig. 1 und die entsprechende Beschreibung) und D10 (Fig. 1 und die entsprechende Beschreibung) - wie von der Beschwerdegegnerin vorgebracht - auf einer anderen Technologie basieren, nämlich auf einer holographischen Abbildung (D3, Seite 5, zweiter Absatz, und D10, Seite 4, erster Absatz) der Reifeninnenfläche auf eine einzige Kamera (D3, Fotokamera 30; D10, Fernsehkamera 27) mittels eines rotationssymmetrischen Spiegels (D3, sphärischen Kegelspiegel 26; D10, Spiegel 21), und nicht - wie es in der Druckschrift D5 der Fall ist - auf einer unmittelbaren optischen Aufnahme von Sektoren der Reifeninnenfläche durch mehrere Messköpfe, wobei zwischen den Sektoren Lücken frei bleiben, die dann durch eine Drehung der Messköpfe erfasst werden (vgl. D5, Fig. 3 und 4 und Absätze [0036] bis [0038]).
Jedenfalls wird darauf hingewiesen, dass die Druckschrift D5 auf einer drehbaren Anordnung der Messköpfe gegenüber der Auflagefläche basiert (vgl. Nr. 3.3.6 oben). Aus Sicht der Kammer hätte der Fachmann aus seinem Fachwissen heraus keinen Anlass, auf diese drehbare Anordnung zu verzichten und die strukturelle Ausgestaltung des Prüfgeräts der Druckschrift D5 derart zu modifizieren, dass die Messköpfe und die Auflagefläche drehfest angeordnet sind - und zwar unabhängig davon, ob bei einem Reifenprüfgerät mit mehreren Messköpfen die relative Drehbarkeit der Messköpfe gegenüber der Auflagefläche, wie von der Einspruchsabteilung behauptet, ein Paradigma darstellt.
4.4.4 Die Kammer ist somit der Auffassung, dass das Reifenprüfgerät gemäß dem erteilten Anspruch 1 gegenüber der Druckschrift D5 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
4.5 Anspruch 1 - Druckschrift D5 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit der Druckschrift D1 oder D2
Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung betreffend die Kombination der Druckschrift D5 mit der Druckschrift D1 oder D2 stellen eine Wiederholung der entsprechenden Ausführungen im Schreiben vom 4. Dezember 2020 dar und beinhalten keine Auseinandersetzung mit den Gründen in der angefochtenen Entscheidung. Sofern das Argument der Beschwerdeführerin, wonach eine drehfeste Anordnung von Messköpfen und Auflagefläche in den Schutzbereich von Anspruch 1 der Druckschrift D5 falle und somit aus Sicht des Fachmanns implizit aus der Druckschrift D5 hervorgehe, eine solche Auseinandersetzung darstellen sollte, kann die Kammer, wie oben unter Nr. 3.3.3 bereits ausgeführt, diesem Argument nicht folgen.
Außerdem sieht die Kammer keinen Grund, von der Auffassung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit gegenüber der Druckschrift D5 in Kombination mit der Druckschrift D1 oder D2 abzuweichen. Insbesondere ist das Merkmal M7 - wie oben unter Nr. 3.1 und 3.2 bereits ausgeführt - weder der Druckschrift D1 noch der Druckschrift D2 entnehmbar, und der Kammer ist nicht ersichtlich, wie der Fachmann durch die Kombination der Druckschrift D5 mit der Druckschrift D1 oder D2 zu dem beanspruchten Gegenstand gelangen könnte.
Die Kammer ist daher der Auffassung, dass das Reifenprüfgerät gemäß dem erteilten Anspruch 1 gegenüber der Druckschrift D5 in Kombination mit der Druckschrift D1 oder D2 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ).
4.6 Anspruch 1 - Druckschrift D5 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit der Druckschrift D3
Die Beschwerdebegründung beinhaltet kein Argument, warum die Auffassung der Einspruchsabteilung, wonach der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber einer Kombination der Druckschrift D5 mit der Druckschrift D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, nicht überzeugend ist.
Jedenfalls wird in dieser Hinsicht darauf hingewiesen, dass die Druckschrift D3 den Fachmann allenfalls dazu veranlassen würde, die Abbildungsoptik mit mehreren Kameras der Druckschrift D5 durch eine holographische Abbildungsoptik mit einer einzigen Kamera zu ersetzen (vgl. Nr. 4.4.3 oben, dritter Absatz), so dass das resultierende Reifenprüfgerät eine einzige Kamera und nicht - wie beansprucht - "mehrere Messköpfe" aufweisen würde.
Somit sieht die Kammer keinen Grund, von der Auffassung der Einspruchsabteilung, wonach das Reifenprüfgerät des erteilten Anspruchs 1 gegenüber den Druckschriften D5 und D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, abzuweichen (Artikel 56 EPÜ).
4.7 Sowohl die Reifenprüfanlage gemäß Anspruch 7 als auch das Verfahren gemäß Anspruch 9 umfassen - wie oben unter Nr. 3.4 ausgeführt - die Verwendung des Reifenprüfgeräts gemäß Anspruch 1. Daher ist die Kammer der Auffassung, dass sowohl der Gegenstand des erteilten Anspruchs 7 als auch das Verfahren gemäß dem erteilten Anspruch 9 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen (Artikel 56 EPÜ).
Gleiches gilt für die abhängigen Ansprüche 2 bis 6, 8 und 10 bis 16 (Artikel 56 EPÜ).
4.8 Aus den Überlegungen und Schlussfolgerungen unter Nr. 4.2 bis 4.7 oben folgt, dass der Einspruchsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ der Aufrechterhaltung des erteilten Patents nicht entgegensteht.
5. Da keiner der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegensteht, ist die Beschwerde zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.